Seit den 1970er Jahren ist der Libertarismus (libertarianism) eine der einflussreichsten Strömungen in der Politischen Theorie und wird meist von rechts gegen Besteuerung und Umverteilung in Stellung gebracht. Der Hamburger Philosoph Ulrich Steinvorth entwarf 1999 unter Rückgriff auf John Lockes Idee vom ursprünglichen Gemeinbesitz an der Natur eine radikale Neu-Interpretation, die das individuelle Eigentum an der eigenen Person mit dem universellen Gemeineigentum an der Natur und ihren Ressourcen kombiniert.
Sven Ha ist Bachelorstudent der Philosophie an der Universität Hamburg.
Die Weltgesellschaft ist gekennzeichnet von extremer Ungleichheit. Weniger als zehn Individuen besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung und damit mehr als vier Milliarden Menschen. Über 820 Millionen Menschen leiden unter Hunger.[1] Diese Zahlen sind der Öffentlichkeit bekannt und werden oftmals als Grund für die Forderung nach mehr Gerechtigkeit angeführt. Ulrich Steinvorth entwickelt in seinem Werk „Gleiche Freiheit“ in kritischer Abgrenzung von anderen Ansätzen eine eigene Position in der Debatte um Verteilungsgerechtigkeit, die der Begründung des Privateigentums eine interessante Analyse des Eigentumsbegriffes voranstellt.[2] Im Folgenden umreiße ich Steinvorths Theorie der gleichen Freiheit und gehe dabei auf ihre politische Bedeutung ein.
Die gleiche Freiheit stellt für Steinvorth den zentralen Inhalt von Gerechtigkeit dar. Er bezeichnet sie auch als die Leitidee des politischen Liberalismus, in dessen Tradition er seine eigene Theorie stellt. Dieser Idee nach handelt derjenige gerecht, der „dem andern dieselbe Freiheit einräumt, über sich und sein Eigentum zu verfügen, die er für sich selbst beansprucht“ (40). Dieses universelle Recht, über sich selbst und über sein Eigentum zu verfügen, schreibe niemandem eine konkrete Lebensweise vor. Dieser Charakterisierung von Gerechtigkeit könnten libertarians wie Robert Nozick zunächst zustimmen. Worin sich die Theorien unterscheiden ist in der Frage, was genau unter Eigentum zu verstehen ist und welche Rechte sich daraus ergeben.
Nozick versteht unter Eigentum vor allem Privateigentum, welches Individuen zusteht wie die Bestimmung über den eigenen Körper. Der Anspruch auf die freie Verfügung über sich selbst und über sein Privateigentum fasst Nozick in dem Begriff des ‚Selbsteigentums‘, also des Eigentums an der eigenen Person, zusammen. Ungerechtigkeit besteht für Nozick lediglich in der Verletzung dieses Selbsteigentums.[3] Nozick übersieht laut Steinvorth in seiner Theorie jedoch einen wichtigen Aspekt des Eigentums, der von seinem ideengeschichtlichen Vorfahren John Locke noch gesehen, jedoch für unwesentlich gehalten wurde und daher in Lockes Theorie nur eine unwesentliche Rolle spielte: Jede Form von Eigentum beinhaltet ein Element der Natur in sich, das nicht vom Menschen geschaffen wurde (122). Die Natur wiederum war für Locke Gemeineigentum der Menschheit. Für Steinvorths Argument ist nun entscheidend, die Natur als Gemeineigentum aller Menschen zu verstehen. Naturgüter werden laut Steinvorth auch bei der Vermischung mit Arbeit nicht zu Privateigentum, sondern verbleiben weiterhin Gemeineigentum, welches ein fortwährender Bestandteil eines jeden Eigentums darstellt (202).
Für rechtslibertäre Theorien wie die von Nozick gehen Naturgüter praktisch über den Prozess der Aneignung in Privateigentum über. Ein Grundstück oder eine Fabrik werden zum Eigentum und gehören so ihrem Eigentümer genau wie seine Arme und Beine. Dieser Ansicht widerspricht Steinvorth. Zwar erlangt das Individuum durch seine Arbeit einen Anspruch auf die Verfügung über ihre Ergebnisse – allerdings beinhaltet dieses Ergebnis auch immer ein Element der Natur, welches nicht von Menschen geschaffen wurde und damit allen Menschen gleichermaßen gehört. Jedem Privateigentum wohnt damit immer ein gewisser Bestandteil an Gemeineigentum der Menschheit ein (123). Nach Locke impliziert der Umstand das wir frei sind, dass wir von Naturdingen nach Belieben Gebrauch machen können, als wäre es unser Selbsteigentum. Die Gleichheit aller Menschen impliziert, dass alle das gleiche Recht auf dieses Eigentum haben (127).
Hillel Steiner, auf dessen Theorie Steinvorth im zweiten Teil seines Werks eingeht, sieht in der Verfügung über natürliche Ressourcen ebenfalls einen wesentlichen Aspekt einer Gerechtigkeitstheorie. Steiner kritisiert den Mangel einer Aneignungstheorie bei Nozick und stellt heraus, dass Naturgüter von Menschen wie Manna vorgefunden werden und daher in Übereinstimmung mit Lockes ursprünglichen Gedanken als Gemeineigentum verstanden und als solche behandelt werden müssen. Steinvorth stimmt Steiner zu, dass das Gemeineigentum an der Natur eine wesentliche Rolle in einer gerechten Verteilung spielt, jedoch vernachlässige Steiner dabei die wesentliche Unterscheidung von erarbeiteten und lediglich vorgefundenen Ressourcen (128). Für Steinvorths Gerechtigkeitstheorie ist die freie Betätigung der eigenen Anlagen und ein sich daraus ergebendes Verfügungsrecht über die Ergebnisse der eigenen Arbeit wesentlich (ebd.). Doch wie lässt sich ein gerechter Anteil eines jeden Menschen am Gemeineigentum der Natur feststellen oder gar berechnen? Steinvorth gibt Steiner darin recht, dass Marktpreise nicht für die Berechnung des Gemeineigentums geeignet sind: Einerseits, da zukünftige Generationen nicht am Markt teilnehmen können und andererseits, da Marktpreise nicht alle derzeitig lebenden Individuen einschließen, da viele Menschen faktisch vom Marktgeschehen ausgeschlossen sind. Steinvorth gibt zu, dass die Berechnung „schwierig bis zu unmöglich“ ist. Das bringt ihn jedoch nicht dazu, die Bedeutung des Gemeineigentums an Naturgütern zu verwerfen (201), sondern leitet ganz im Gegenteil eine Reihe umfangreicher Rechte und Pflichten daraus ab, zum Beispiel für die intergenerationale Gerechtigkeit.
Der Idee der gleichen Freiheit für alle Menschen folgend, besteht laut Steinvorth für jeden Menschen das Recht „bei ihrer Geburt eine Welt mit Lebensmöglichkeiten vorzufinden, die denen ihrer Vorfahren gleichwertig sind“. Dies impliziere, dass der Staat verbrauchte Naturgüter für zukünftige Generationen regenerieren oder substituieren müsse (123). Was bedeutet hier jedoch gleichwertig? Ein schwieriger Umstand besteht darin, dass Naturgüter zum überwiegenden Teil nicht als reine Naturgüter existieren, sondern durch die Verbindung aus Arbeit und Natur, in Form von gemischten Ressourcen vorliegen (202). Durch die Kultivierung von natürlichen Ressourcen gehe die Naturbasis in die gemischten Ressourcen ein und werde so Teil von kollektivem Privateigentum einer Kultur. Zu dem aufrechtzuerhaltenden kollektiven Eigentum gehört dabei nicht nur die materielle Kultivierung, sondern auch das nötige Wissen, davon Gebrauch zu machen. Daher bestehe laut Steinvorth auch eine Pflicht der derzeitigen Generation, der nächsten ein gleiches Maß an Kultur zu überliefern. Daraus leitet Steinvorth eine Staatspflicht ab, eine entsprechende Bildung zu finanzieren (204). Gleichzeitig macht Steinvorth deutlich, dass diese Vorrechte nur bestehen, solange ein gleicher Zugang zu natürlichen Ressourcen für alle Menschen gewährleistet ist.
Doch wer soll für die Herstellung gleicher Lebensbedingungen aufkommen? Steinvorths Idee ist hier, die Verursacher für den Verbrauch der Ressourcen Individuen, Firmen und Nationen aufkommen zu lassen, solange sie identifizierbar sind, und ansonsten im Verhältnis zum Einkommen zu besteuern. Als Grund dafür nennt er, dass Reichere tendenziell mehr Gebrauch vom Gemeineigentum machen und damit in besonderem Maße für dessen Wiederherstellung verantwortlich seien (204).
Auch wenn die genauere Betrachtung dieser Argumentation einige Fragen aufwerfen mag, so ist doch der Grundgedanke einleuchtend und in seinen Implikationen bedeutsam. Natürliche Ressourcen sind kein Ergebnis menschlicher Arbeit und damit auch kein Verdienst. Soll jedem Menschen das gleiche Maß an Bestimmung über sich und sein Eigentum zugesprochen werden und gehört zu diesem Eigentum auch Gemeineigentum und kollektives Privateigentum, so scheint eine Pflicht unserer Generation zur Erhaltung gleicher Lebensbedingungen für die kommenden Generationen eine plausible Folge zu sein. Diese Pflicht ergibt sich interessanterweise aus einer libertären Gerechtigkeitskonzeption, die sich auf das Recht auf Eigentum konzentriert, jedoch in dem Verständnis von Eigentum den natürlichen Anteil berücksichtigt.
Steinvorth leitet aber nicht nur weitreichende Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen ab: „Auch innerhalb jeder Generation muß jedes Individuum vom gemeinsamen Erbe der Menschheit gleichen Gebrauch machen können” (205). In Bezug auf intragenerationale Gerechtigkeit müsse ein ungleicher Verbrauch natürlicher Ressourcen ausgeglichen werden, sofern der Mehrverbrauch keiner allen zugänglichen und nützlichen Mehrproduktion entspreche. Dem universalen Gemeineigentum der Naturgüter entsprechend gilt dieser Anspruch auf Kompensation über nationale Grenzen hinweg für alle Menschen (ebd.). Diesem universalen Anspruch steht lediglich das Vorrecht über kollektives Eigentum partikularer Gruppen entgegen, welches wiederum der Einschränkung unterliegt, dass für alle Menschen gleicher Zugang zu natürlichen Ressourcen besteht. In Anbetracht der derzeitigen Ungleichheit zwischen Nationen scheint hier eine umfangreiche Umverteilung des kollektiven Eigentums notwendig zu sein, um allen Menschen den geforderten gleichen Zugang zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen.
Innerhalb der lebenden Generation besteht laut Steinvorth nicht das gleiche Recht auf Gebrauch gemischter Ressourcen, da dies das Recht auf Aneignung der Ergebnisse der eigenen Arbeit verletzen würde. Zwischen Generationen bestehe ein gleiches Recht auf das Menschheitserbe und daher auch das gleiche Recht auf gemischte Ressourcen. Innerhalb der lebenden Generation werden gemischte Ressourcen jedoch über das gleiche Recht auf Aneignung der eigenen Arbeitsergebnisse geregelt (205). Die Gerechtigkeit der Aneignung durch die eigene Arbeit bemisst sich nach Steinvorth daran, „dass ein Individuum seine Anlagen ebenso ungehindert gebrauchen kann wie jedes andere“ (ebd.). Damit jeder seine Anlagen gleichermaßen gebrauchen kann müsse es erstens jeder ebenso leicht wie jeder andere haben, einen Gegenstand der Betätigung zu finden. Mit anderen Worten ergibt sich aus der gleichen Freiheit für Steinvorth ein Recht (aber keine Pflicht) auf Arbeit, sodass sich die Staatspflicht ergibt, jedem eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten: “[J]eder Bürger [hat] ein Recht auf Arbeit in dem starken Sinn hat, daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit eine Verletzung seines Eigentumsrechts auf Mitverfügung über den Gebrauch der natürlichen und der gemischten Ressourcen seines Landes ist” (229). Dafür schlägt Steinvorth die staatliche oder zivilgesellschaftliche Schaffung von sinnvoller, sozialer Arbeit vor. Zweitens müsse jeder seine Talente und Fähigkeiten ebenso gut ausbilden können wie jeder andere, sodass eine Pflicht für den Staat bestehe, ein jedem zugängliches Schul- und Erziehungssystem zu schaffen. Drittens habe jeder das Recht auf einen Schutz vor unverschuldetem Unglück, wofür Steinvorth eine Solidarversicherung und ein bedingungsloses Mindesteinkommen vorschlägt (232). Ergänzend zu nationalen Staaten sei es die Pflicht der Staaten, einen Weltstaat zu errichten, der den Schutz des Gemeineigentums der Menschheit garantiert. Dazu gehöre beispielsweise die gerechte Verteilung von Trinkwasserressourcen über Landesgrenzen hinweg, sowie die Erhaltung der Atmosphäre und anderer Funktionen des globalen Ökosystems (ebd.: 213).
Insgesamt liefert Steinvorth mit seinem Linkslibertarismus wichtige Anregungen in der Debatte um innerstaatliche und globale Verteilungsgerechtigkeit. Besonders interessant ist dabei die Rolle der Naturgüter in der Rechtfertigung der umfangreichen sozialen Rechte und staatlichen Pflichten. Die gleiche Freiheit, also das Recht über sich und sein Eigentum zu verfügen, steht allen Menschen universal zu. Jedem Eigentum wohnt dabei ein natürlicher Bestandteil ein, der nicht gänzlich in Privateigentum aufgeht. Folgt man diesem Gedanken ergeben sich wie wir gesehen haben weitreichende Bedingungen für den legitimen Umgang mit Ressourcen sowie starke Pflichten wie die Pflicht von Staaten für Arbeitsplätze, Bildung und Schutz vor unverschuldetem Unglück zu sorgen. In Anbetracht von Steinvorths universalem Anspruch an die gleiche Freiheit lässt sich die Frage stellen, ob sich nicht noch stärkere Ansprüche auf gemischte Ressourcen für alle Menschen ableiten lassen, als es die Kategorie des kollektiven Privateigentums in Form von gemischten Ressourcen zulässt. Wieso ergeben sich spezielle Rechte für eine Person, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Region geboren wird, wenn doch die gleiche Freiheit allen Menschen gleichermaßen zustehen soll? Nur in Bezug auf den Ertrag der eigenen Arbeit und damit den Anspruch auf die eigenen Arbeitsergebnisse lässt sich dies aus libertärer Sicht nachvollziehen. In Bezug auf kollektiv bearbeitete Naturgüter scheint dies jedoch weniger eindeutig, wenn doch allen Menschen der gleiche Zugang zu natürlichen Ressourcen zustehen soll und den Neugeborenen einer Kultur eben diese Arbeit nicht als Verdienst zugerechnet werden kann, sondern ihren Vorfahren. Warum ergeben sich dadurch partikulare kultur- oder nationengebundene Sonderrechte? Steinvorth geht in der Rechtfertigung für diese Position auf Hegel ein (233), doch abseits eines Autoritätsarguments lässt sich hier wohl eine weitere Rechtfertigung verlangen. Auch lässt sich wohl die Frage der Gerechtigkeit in Bezug auf eine lange Kolonialgeschichte stellen, sobald besondere Rechte auf gemischte Ressourcen einiger Staaten trotz des Anspruchs der gleichen Freiheit aller Menschen gerechtfertigt werden sollte. Entsprechend der Logik der Sonderrechte auf gemischte Ressourcen ließen sich auch Sonderpflichten für ehemalige Kolonialmächte ableiten.
[1] Oxfam 2019, https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/2017-01-16-8-maenner-besitzen-so-viel-aermere-haelfte-weltbevoelkerung und Welthunger-Index 2019, https://www.globalhungerindex.org/pdf/de/2019.pdf, Zugriff am 23.09.2019
[2] Ulrich Steinvorth (1999): Gleiche Freiheit. Berlin: Akademie Verlag.
[3] Robert Nozick (1974): Anarchy, State and Utopia. Oxford: Blackwell.