Rainer Schmalz-Bruns ist seit 2005 Professor für Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik an der Leibniz-Universität Hannover. Er hat die Sektion für Politische Theorie in der DVPW von 1997-2003 geleitet und war von 2010 bis 2016 geschäftsführender Herausgeber der Politischen Vierteljahresschrift. Seine Habilitation erfolgte 1994 an der Universität Hamburg, während er an der Universität der Bundeswehr Hamburg, der heutigen HSU, als wissenschaftlicher Assistent tätig war. Von 1996 bis 2005 hatte er die Theorieprofessur am Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt inne.
Peter Niesen ist Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg.
Rainer Schmalz-Bruns zum 65. Geburtstag
Die Veröffentlichung von Schmalz-Bruns‘ Habilitationsschrift beendete 1995 eine Phase der Unschlüssigkeit in der deutschsprachigen Politischen Theorie, indem sie einen politischen Kognitivismus für die Gegenwart rettete, der damals in der deutschsprachigen Politischen Theorie höchst provokativ erscheinen musste. An die in Reflexive Demokratie entwickelte Position ließ sich später einerseits, wie der Autor in einem heute klassischen Aufsatz aus dem Jahre 1999 mit dem Titel „Deliberativer Supranationalismus“ zeigt, auch für Kontexte jenseits des Staates anknüpfen. Andererseits lässt sich auf der Basis heutiger Konzeptionen epistemischer Demokratie auch unter veränderten Rahmenbedingungen mit Gewinn an das kognitivistische Modell reflexiver Demokratie anschließen.
Reflexive Demokratie entwickelt eine Konzeption deliberativer Politik, die, durch sozialphilosophische Einsichten ermutigt, bisher brachliegende zivilgesellschaftlicher Demokratiepotentiale mit klarem institutionellem Fluchtpunkt ausschöpfen will. Indem sie in wesentlichen Punkten über das deliberative Demokratiemodell, das Habermas 1992 in Faktizität und Geltung vorgeschlagen hatte, hinausgeht, lässt sich die Arbeit immer noch als Beitrag zur Radikalisierung demokratiewissenschaftlichen Denkens verstehen, als „metapolitische Radikalisierung partizipatorischer Demokratie“ (161). „Metapolitisch“ hieß hier nicht, dass der Versuch gemacht würde, jenseits institutioneller Politik den Rahmen politischer Wahrnehmung zu verändern, sondern vielmehr, dass selbst tief eingegrabene Kompetenzverteilungen des parlamentarischen Systems auf dem Spiel standen. „Radikalisierung“ hieß, dass gesellschaftliche Akteure den staatlichen Kernzuständigkeiten Bereiche der Selbststeuerung abringen sollten, ohne diese damit qualitativen und Effizienzkriterien zu entziehen. Um die Provokation, dass eine solche Radikalisierung auf der Basis eines kognitivistischen Politikverständnisses nicht nur in abstrakten Praktiken der Selbstgesetzgebung für unbestimmt allgemeine Fälle, sondern in partizipatorischen Praktiken der Selbstregierung für konkret identifizierte Problembestände möglich sein kann (99), für die damalige Zeit nachvollziehen zu können, muss man sich das zeitgenössische wissenschaftliche Umfeld innerhalb der Politikwissenschaft vor Augen halten, das nicht gerade an einem Mangel an normativen Positionierungen krankte, sich zu ihnen aber eben nicht durchgängig reflexiv verhielt. In der Politischen Theorie waren zwei große demokratische Traditionen dominant – eine an Aristoteles orientierte, sich als immanente Auslegung der ‚guten Ordnung‘ verstehende Linie, die ein von der Antike bis zu Hannah Arendt, Eric Voegelin und Leo Strauß tradiertes objektivistisches Bild des gelingenden menschlichen Zusammenlebens immer noch fraglos-verstockt meinte voraussetzen zu können, und eine kontingenztheoretisch ernüchterte, an die Zersplitterung sozialer Funktionssysteme anknüpfende modernitätsaffine Linie, die sich trotz ihrer demokratischen Loyalitäten dezisionistisch und daher ebenso unkritisch zu institutionellen Aufgabenverteilungen wie zu politischen Ergebnissen verhalten musste. Während der politiktheoretische mainstream in beiderlei Gestalt an den Universitäten durchaus eine abstrakte Pro-Einstellung zur Demokratie pflegte, waren ihm doch die Modelle abhandengekommen, die das Ausformulieren normativer Ideen auf dem Niveau professioneller Sozialwissenschaft gestattet hätten und die politische Theorien auch angesichts erreichter Niveaus gesellschaftlicher Komplexität als Anregung empirischer Arbeiten hätten wirksam werden lassen. Nicht von ungefähr ist Schmalz-Bruns‘ Werk dafür gewürdigt worden, die erneuerte Anschlussfähigkeit normativer Theoriebildung für die restliche Politikwissenschaft sichergestellt zu haben.[1]
Das Erfolgsgeheimnis der Reflexiven Demokratie lag in ihrem Plädoyer für eine Intensivierung bürgerlicher Partizipation, das sich ganz unwahrscheinlicher Weise gleichzeitig eine Ausdehnung des kognitiven Anspruchs der Demokratie vornahm. Unter Kognitivismus versteht man allgemein, dass ein bestimmter Bereich von Aussagen wahrheitsfähig ist. Auch wenn dies auf den ersten Blick für den Bereich der Politik kontraintuitiv erscheinen mag, ist mit einer kognitivistischen Sichtweise zunächst der große Vorteil verbunden, dass politische Aussagen auch falsch sein, sie sogar falsifiziert werden können, dass also politische Praxis sich nicht in der ständigen Wiederholung des Identischen, bereits Abgehakten erschöpfen muss, sondern fehlschlagende policies auf der Basis von Gründen oder Erfahrungen als widerlegt gelten können. Allerdings nimmt man umgekehrt mit der Unterstellung, dass Demokratie wahre oder korrekte, zumindest kognitiv respektable und nicht bloß um Hegemonie konkurrierende Ergebnisse produzieren kann, eine beträchtliche Erklärungslast auf sich. So kann es zu Missverständnissen führen, einen unbestimmten Wahrheitsbegriff auf politische Prozeduren und Entscheidungen anzuwenden; ebenso kann eine Festlegung auf eine bestimmte philosophische Wahrheitstheorie kontraproduktiv sein, selbst wenn sie in demokratischer Einstellung ausgearbeitet wird,[2] weil sie VertreterInnen konkurrierender Wahrheitsverständnisse, die damit politisch noch nicht unvernünftig sein müssen, ins Unrecht setzt. Schmalz-Bruns entwickelt seinen politischen Kognitivismus auf der Basis von und in Abgrenzung zu den Kantianischen Konstruktivismen von Habermas (1992) und Rawls (Politischer Liberalismus, 1993), die mittels ihrer Verständnisse öffentlicher Vernunft zwar keine neue Spezies von Tatsachenwahrheiten produzieren wollten, wohl aber von der Möglichkeit nicht nur konsensfähiger, sondern richtiger Antworten auf praktische Fragen überzeugt waren, deren post-agonistisches Verständnis des Politischen jedoch nur schwerlich mit Expertise-bedürftigen policy-Fragen zu verklammern war. Zu Recht beklagt Schmalz-Bruns hier den um sozialstaatliche Themen beraubten, eingeschränkten Skopus des Vernunftgebrauchs beim späten Rawls, während er bei Habermas den Bereich des Diskursiven zu stark gegen die Artikulation von Sonderinteressen immunisiert sieht und generell gegen die institutionell monistische Fesselung des Demokratischen ins Feld zieht. Mit der Unterstützung seitens einer republikanischen Sozialphilosophie, die in unbeschädigt sozialisierten DemokratInnen nicht nur rationale Teufel sehen mag, kann Schmalz-Bruns gegen Habermas behaupten, dass politische Vernunft (als wahrheitsanaloger Erfolgsbegriff) sich nicht nur in Diskursen, sondern auch in anspruchsvollen Verhandlungen soll geltend machen können, um sich so ihre Ausstrahlung von den Gipfeln der high politics bis in die Ebenen der Festlegung und Prüfung von policies zu sichern. Dabei hilft ihm eine pragmatistisch-prozessuale Interpretation kognitivistischer Politik als reflexiv nachvollziehbare Problemlösung, als deren Orte er neben der auf abstrakte Zuständigkeitsverteilung reduzierten parlamentarischen Entscheidungsfindung auch Netzwerke, Verhandlungssysteme und neuartige deliberative Arenen vorsieht. Diese Dezentrierung und Erweiterung partizipatorischer Politik wurde in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts noch nicht in der Semantik von ‚Mini-Publics‘ als ‚demokratische Innovation‘ verkauft, griff ihnen aber in der sachlichen Ausrichtung, z.B. der Mediation von großen Infrastrukturentscheidungen oder partizipativen Verfahren der Technikfolgenabschätzung, durchaus voraus, indem eine „assoziationspolitische Modernisierung“ eine Vielfalt von direkt-deliberativen Öffentlichkeiten schaffen sollte. Auch wenn sich die Hoffnungen auf spontane Selbstorganisation von Assoziationen kaum erfüllten, ist doch die nachhaltige partizipatorische Generierung von Expertise seither gut bestätigt,[3] so dass Schmalz-Bruns‘ dezentraler Kognitivismus heute, im Zeitalter einer erneuerten epistemischen Orientierung der Demokratietheorie,[4] anschlussfähiger dasteht als seine konflikt- und kontingenzdemokratischen Zeitgenossen. Dabei wäre für die Modernisierung des Ansatzes zu fragen, inwiefern das reflexive Paradigma die volle Breite heutiger kognitivistischer Demokratieversprechen ausschöpfen kann. Wenn der politische Kognitivismus der Gegenwart seine Hoffnungen nicht mehr nur allein auf deliberative, d.h. im engeren Sinn gründe-basiert nachvollziehbare Normengenese, setzt, sondern mechanistischere Varianten wie das Condorcet Jury Theorem oder das Diversity beats Ability Theorem auf ihre Vorzüge überprüft werden,[5] könnte der Problemlösungsbezug eine lingua franca bereitstellen, um die unterschiedlichen Weisen, Demokratie als Erfolgskonzept zu formulieren, miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Herausforderung der kommenden Jahre mag daher darin liegen, gründe-gestützten ebenso wie aggregativen Verfahren mit kognitivem Potential, zu denen nicht allein mehrheitsdemokratische, sondern auch algorithmische Prozesse lernender KI gehören könnten, die auf jeweils unterschiedlichen Wegen Ansprüche auf epistemische Qualität erheben, im Rahmen einer komplexen Theorie politischer Vernunft jeweils zu ihrem Recht zu verhelfen. Dazu ist nichts weniger als eine reflexive Neuallokation von Foren der Willensbildung und Entscheidungsfindung vonnöten.
Die eigentliche Idee der reflexiven Politik ist daher bis heute nicht ausgeschöpft. Sie wird eingeführt in einer knappen Skizze im siebten Kapitel des Buches, das als Scharnier fungiert zwischen dem kritischen Teil, dem die gescheiterte Theorie zivilgesellschaftlicher Selbststeuerung bei Cohen und Arato als Leitfaden dient, und dem konstruktiven Teil des Buches, der sich von Ansätzen einer deliberativen policy-Forschung, etwa bei Frank Fischer, inspirieren lässt. Sie bezieht sich auf die „Arbeitsteilung“ zwischen unterschiedlichen für die Generierung von Expertise offenen Foren. Anstelle der Monopolisierung politischer Entscheidungen im Zentrum des politischen Systems soll eine Vielfalt gesellschaftlicher Selbstorganisationsformen ermutigt werden. Dabei ist allerdings vor allem eine folgenlose Pluralisierung und Politisierung zu vermeiden – als ein Beispiel hebt Schmalz-Bruns die selbstbezüglich identitätspolitischen Schleifen der Zivilgesellschaft hervor, die unverbunden mit Mechanismen politischer Problemlösung nur Fallstricke erzeugen können (132). Der Schlüssel der reflexiven Demokratie liege dagegen in einer „Politisierung und Demokratisierung des Zusammenspiels unterschiedlicher Formen von Demokratie“ (164). Die Dauerreflexion auf die Bedingungen öffentlicher Willensbildung soll dabei zugleich der Qualitätsverbesserung und der Steigerung der Angemessenheit von Entscheidungen dienen: In Passagen, die auf die heutige Diskussion des sogenannten boundary problem in der Demokratie vorausweisen, plädiert Schmalz-Bruns, dem Entscheidungsbezug die Klärung des Subjekts, des geeigneten Verfahrens und der zu begrenzenden Reichweite der Regelung vorzuschalten.
Aus heutiger Sicht ließe sich fragen, warum die Erweiterung gesellschaftlicher Zuständigkeiten für demokratisches Selbstregieren sich in der Reflexiven Demokratie doch immer noch in einem politizistischen Rahmen abspielt, warum beispielsweise die Demokratisierung von Familie, Arbeitsplatz, Universität keine den korporativen und Betroffenen-Foren gleichrangige Aufmerksamkeit genießt? Die Antwort liegt womöglich darin, dass sie sich nicht einem hegelianisch kohärenten System komplexen Selbstregierens fügen, sondern dieses mit zentrifugalem Pluralismus konfrontieren würden. Radikalisierung der Demokratie heißt eben nicht Maximierung des Demokratischen. Das Vernunftverständnis, das sich aus der Theorie reflexiver Demokratie herauspräparieren lässt, ist ein absolut vorbehaltloses, gleichzeitig egalitäres und forderndes, ein in die Vielfalt von Stimmen und Verbindungspunkten dezentralisiertes, aber gleichzeitig auf die Idee der „Selbsteinwirkung“, also auf das Zusammenlaufen in kollektiv verbindlichem Entscheiden verpflichtetes. Der Prozess der Reflexion und Neuorganisation deliberativer Arenen – eigentlich ein Synonym für eine mit Deweyscher Intelligenz ausgeübte ‚konstituierende Gewalt‘, doch schien dieser Ausdruck in den Mitt-Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts wohl noch nicht safe for democracy – darf weder innerhalb noch außerhalb nationalstaatlich gebändigter Demokratie als abgeschlossen gelten, solange er nicht institutionell kanalisiert werden kann. Dies ist nicht durch eine Optimierung sozialer Aneignung, sondern allein durch die Einrichtung eines Stufenbaus von Verantwortlichkeiten möglich. Man sieht leicht, wie der Autor im Jahre 1999, auf dem Höhepunkt der Debatte über das demokratische Defizit der Europäischen Union, nur die Konsequenz aus der abstrakten Anlage der Theorie ziehen musste, um das reflexive Modell auf zu demokratisierende Kontexte jenseits des Staates zu verlängern, ohne den berühmten etatistischen Fehlschluss zu begehen, nach dem supranationale Demokratie die Architektur des Nationalstaats in größerem Maßstab reproduzieren soll. In transnationalen Kontexten kann es nicht darum gehen, Zuständigkeiten nach dem Muster eines materialen Subsidiaritätsprinzips zu verteilen, noch können insulare Deliberationen, solange sie nicht systemisch mit partizipativen Strukturen verknüpft sind, eine freistehende politische Vernünftigkeit garantieren. Im Zentrum des für den Bereich des Transnationalen adaptierten Entwurfs stehen daher weder Weltrecht noch Globalstaat, auch nicht effektive globale Governance oder legitime Weltinnenpolitik, sondern die trotz vielfältiger Entwicklungen eines globalen Konstitutionalismus seither unabgegoltene „Konstitutionalisierung einer reflexiven Institutionenpolitik“,[6] die es den Nationalstaaten wie der Weltgesellschaft ermöglichen soll, ihre Koordinationsprobleme allererst in einem systematischen Zusammenhang anzugehen.
[1] S. die Einordnung des reflexiven Demokratiemodells bei Klaus von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart. 8. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2000, 39f.
[2] Frank Nullmeier, „Bloße Meinung“. Über Demokratie, Öffentlichkeit und die Abwertung der Meinung als Gegenteil von Wahrheit, in: Soziopolis 28.5.19, https://www.soziopolis.de/beobachten/politik/artikel/blosse-meinung/
[3] Jürg Steiner, The Foundations of Deliberative Democracy. Empirical Research and Normative Implications. Cambridge 2012; Michael Neblo, Deliberative Democracy between Theory and Practice. Cambridge 2015.
[4] Cristina Lafont, Democracy without Shortcuts. Oxford im Erscheinen; Hélène Landemore & Jon Elster (Hg.), Collective Wisdom. Cambridge 2012.
[5] Hélène Landemore, Democratic Reason. Politics, Collective Intelligence, and the Rule of the Many. Princeton 2013; Kai Spiekermann & Robert Goodin, An Epistemic Theory of Democracy. Oxford 2018.
[6] Rainer Schmalz-Bruns: Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regieren jenseits des Staates. Zeitschrift für Internationale Beziehungen 6, 2, 1999, 185-244, 234.